Auf die Felsnadel im Meer
mit Fotos von Björn Olausson
Wer Felsnadeln im Meer besteigen möcht, Seastack climbing, wie der Brite sagt, braucht vor allem eines: Geduld. Denn auf dem Weg dorthin lauern viele Unwägbarkeiten: das notorisch regnerische schottische Wetter (sagt die Gerüchteküche), steifer Wind bis hin zum Sturm (sagen die Erfahrungsberichte im Internet) und aggressive Seevögel, die völlig zu Recht ihr Territorium verteidigen und denen man sich als Klettergebietssperrungs-erfahrener Deutscher mit der allerhöchsten Demut nähert. Ja, auch dreifache Verbeugung und Kotau dauern ihre Zeit. Dass man die Sicherungen selbst legen muss hatte ich natürlich erwähnt oder? Ja, richtig, ich schrieb bereits so etwas wie „britisch“.
Aber was nützt das ganze Internetgebrause – wir wollen das selbst erleben – also müssen wir da hin. Ich plane zwei Wochen ein – fest entschlossen, die Felsnadel so lange zu belagern, bis sich ein Loch in der Wolkendecke auftut und wir eine schnelle Begehung wagen können.
Mit dabei ist Björn, mit dem wir schon Abenteuer in China, im Oman und sonstwo bestritten haben und dessen notorisch gute Laune eine der Schlüsselkompetenzen ist, um auch widrigste Umstände gelassen hinzunehmen. Dazu kommt geballte Kompetenz, unser Freund Simon, der in Newcastle upon Tyne lebt, der nördlichsten englischen Großstadt und der einst in Halle (gute Leute) und Erlangen (dazu gutes Bier) studierte. Er kennt nicht nur die Feinheiten der Biersorten des Empires sondern auch den Weg zu den Orkney-Inseln, jenem Archipel im hohen Norden, auf dem der höchste britische Seastack darauf wartet, eines Tages ins Meer zu kippen. Doch bevor es so weit ist, wollen wir da hinauf, auf den „Old Man of Hoy“. 137 Meter ist er hoch, die Kletterei verteilt sich auf 5 Seillängen in Gestein von, nun, sagen wir – „wechselnder Qualität“.
Ich bin das dritte Mal in England und beim letzten Mal bin ich mitten im Sturm polternd und rumpelnd in Newcastle gelandet, so dass mir Hören und Sehen vergangen war. Die Leistung des Piloten ist mir aber erst dann völlig klar geworden, als ich auf die Gangway hinaustrat um den Flieger zu verlassen und über die Landebahn hinüber in die Luftaufsichtsbaracke zu wechseln (ich übertreibe ein wenig, Newcastle hat natürlich einen internationalen Flughafen und dass man einfach hinüberlaufen kann, finde ich viel besser, als in Amsterdam 45 Minuten zu warten um mit einem Bus 2 Kilometer zu fahren um letztendlich lächerliche 50 Meter zum Flugzeug zurückzulegen). Damals riss es mich aus dem Stand und ich war froh, mich am Geländer festhalten zu können. Auf den Straßen lagen entwurzelte Bäume und der Links verkehr machte mich panisch.
Auch diesmal holt uns Simon ab, aber es ist sonnig und aufgrund von Trockenheit und Hitze hat die Regierung soeben die Benutzung von Gartenschläuchen unter Strafe gestellt. Zum Glück ist Simon ein Autofahr-Genie, so dass wir uns häuslich auf den billigen Plätzen des Wagens niederlassen können, auch wenn ich gefühlt auf dem Fahrersitz Platz nehme und jedes Mal einen Schock bekomme, wenn der Gegenverkehr auf mich zurast. Doch nach wenigen hundert Kilometern habe ich mich auf den Seitentausch eingestellt und britische Gelassenheit ergreift mich. Die ist auch bitter nötig, denn bei unserer Fahrt ins Zielgebiet stelle ich erstaunt fest, dass es in Großbritannien nicht mal eine Autobahn von Süd nach Nord gibt. Natürlich will ich auch nicht den Überheblichen raushängen lassen, denn egal ob man in Deutschland nach Flensburg im Norden oder Garmisch im Süden fährt, die Autobahn dient ohnehin nur dazu, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. In Flensburg nach Norden, wegen des schlechten Gewissens (wie viele Punkte waren das gleich?) und im Süden ist es zwar nicht so, dass die Berge um Garmisch schlecht wären. Aber wenn man von Halle aus nur noch ein wenig weiter fährt, werden die Berge noch besser.
In Schottland ist es jedenfalls so, dass kurz nach der „Grenze“ zu England die Autobahn aufhört. Die besagte Geduld bleibt das Mantra der Reise. Ringsum wogen anfangs noch Gerstenfelder. Die essen das Getreide hier nicht, die vertrinken es – höre ich erstaunt. Ja, die gesamte Gerstenproduktion hier in Südschottland diene der Whiskyproduktion, erfahren wir von Simon. Damit steht Plan B fest. Sollten wir aufgrund schlechten Wetters dort im Norden 2 Wochen auf unsere Gipfelbesteigung warten müssen, können wir die Brauereien abklappern und die verschiedenen Sorten verkosten. Ich sag nur eins: rauchig im Abgang.
Aber zunächst geht es mit maximal erlaubter Geschwindigkeit, die Simon auch in sehr knappen Kurvenlagen geschickt ausreizt, auf schrittweise enger werden Straßen immer weiter, 11 Stunden nach Norden bis das schottische Festland aufhört. Unterwegs übernachten wir in einem verlassenen Farmhaus in dem es nachweislich spukt, zumindest, so lange Wind und Regen durch die leeren Kamine stöhnen. Ringsum ist hauptsächlich Grünland, hier werden kaum noch Felder betrieben, Gras und Viehzucht bestimmt das Bild. Wenn hier erst die EU und dann irgendwann die britische Regierung die Subventionen einstellt, geht das Licht aus und es wird noch viel mehr leere Farmhäuser geben.
Doch schon am kommenden Morgen scheint die Sonne wieder, wir stehen an der nördlichen Abschlusskante Schottlands und schauen in die graublaue See. Auf der anderen Seite können wir schon die Orkney-Inselgruppe im schimmernden Blau des Horizonts sehen – die Steilküsten lassen sich bereits von hier ausmachen.
Eine unglaublich schnelle Fähre legt die Strecke in anderthalb Stunden zurück, die man entspannt an Bord bei einem Mittagessen zu fairen Preisen verbringt. Auf der anderen Seite angekommen schießt Simon mit quietschenden Reifen von der Landeklappe und düst auf der holprigen Inselstraße konzentriert 2 Buchten weiter. Denn um zum Old Man of Hoy zu kommen, muss man von der Orkney-Hauptinsel (Mainland) noch mit einer weiteren Fähre reisen, die zur kleineren Insel Hoy übersetzt. Geduld ist also weiterhin gefragt. Gepaart mit guter Planung. Denn Simon schafft nicht nur die knappe Pufferzeit von 30 Minuten, wir ergattern sogar noch den letzten Platz auf der ansonsten vollen Anschlussfähre hinüber nach Hoy.
Auf dem Wasser bekommen wir Geschichtsunterricht und ich stelle mal wieder fest, wie wenig ich über die Vergangenheit weiß. Denn als ich auf fest verankerte Schiffe und riesige Metallpoller mitten im Meer hindeute, erklärt uns Simon:
„Wir befinden uns im größten Hafen der Welt – Scapa Flow. Die steilküstenumkränzten Orkney-Inseln umfassen hier ein Meeresbecken von 12 Kilometern Durchmesser, das dadurch vor den wilden Stürmen seiner beiden Anrainer geschützt ist: der Nordsee im Osten und dem Atlantischen Ozean im Westen. Sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg wurde hier die gesamte britische Flotte stationiert, womit sie außerhalb der Reichweite der deutschen See- und Luftstreitkräfte war. Zwar schafften es die Deutschen beide Male, mit einem U-Boot hineinzuschleichen und Zerstörungen anzurichten, doch vom Prinzip her blieb Scapa Flow ein überwiegend sicherer Hafen. Nachdem Deutschland den ersten Weltkrieg verloren hatte, kehrten die britischen Schiffe größtenteils wieder in ihre Heimathäfen zurück. Stattdessen wurde nun die gesamte deutsche Kriegsflotte unter britischem Geleit von ihren eigenen, entwaffneten deutschen Besatzungen hierher verbracht, um als Verhandlungsmasse bei den Friedensverhandlungen zu dienen. Der befehlende deutsche Marineoffizier hatte Kenntnis vom Vertrag von Versailles erhalten und ging davon aus, dass Deutschland diese Bedingungen nicht annehmen würde und der Krieg weitergehen würde. Deshalb ordnete er in einer Nacht- und Nebel-Aktion die Selbstzerstörung der gesamten deutschen Flotte an, über 70 Schiffe sanken auf den Grund von Scapa Flow.“
Einige der Wracks kann man heute noch sehen, doch die Schiffe, auf die ich gezeigt hatte, sind Öltanker, die hier parken, ihr Öl in großen Behältern zwischenlagern oder hier betankt werden.
Wir landen auf Hoy, zu Kriegszeiten lebten hier 19.000 Menschen um die Schiffe zu versorgen, heute sind es noch 400. Unsere Fahrt führt uns von der flachen Innenseite der Insel hin zu den Steilküsten der Außenseite zum Atlantik hin. An einer halbkreisförmigen Bucht, die mit ihrem Sand- und Kiesstrand und den sattgrünen Wiesen an Romantik kaum zu übertreffen ist und an der ein paar Häuser stehen, schlagen wir unser Lager auf. Es gibt hier in Rackwick, wie der kleine Flecken heißt, eine kleine Berghütte – oder sollte ich sagen Strandhütte? Wie auch immer – Übernachtung gegen Spende oder auch das Zelt auf den perfekten schottischen Rasen stellen -alles ist unkompliziert und paradiesisch. Unsere Verpflegung haben wir mitgebracht, denn einen Laden gibt es auf Hoy nicht.
Im Sonnenuntergang sitzen wir auf der alten Steinbank vor der Hütte und schauen aufs Meer hinaus. Kaum zu glauben, dass zwischen hier und Amerika kein Land mehr ist.
Der kommende Tag weckt uns mit Sonnenschein satt und einer Zutat, die es hier sonst fast niemals gibt: Windstille! Nach ausgedehntem Frühstück machen wir uns auf die anderthalbstündige Wanderung zu dem Abschnitt der Küste, dem der Alte Mann vorgelagert ist, 137 Meter über dem Meer. Man steht dem Gipfel auf der Steilküste geradezu gegenüber und meint, man könne mit einem Gleitschirm vielleicht sogar hinübersegeln. Auf einem steilen Pfad geht es auf rutschigen Grasbatzen hinunter zur Küste, jeder Ausrutscher würde das Leben kostet. Aber wir haben Glück, denn diese Grasbatzen sind normalerweise immer nass und glibberig – nur eben heute nicht.
Eine steile, steinige Halbinsel führt hinüber zum Seastack, der Einstieg ist schnell gefunden und die Kletterei nicht allzu schwer. Die schwerste Seillänge ist 7 UIAA, eigentlich sogar sehr schöne Risskletterei, nur der Old Red Sandstone ist unter den hier anzutreffenden klimatischen Bedingungen eben nicht der solideste. Aber das haben wir vorher gewusst und so genießen wir die Abenteurerkletterei mit den selbst angebrachten Friends und Klemmkeilen und ich mache ein paar schöne Fotos, die sicher irgendwann in die nächste Auflage von Hexen und Exen gelangen wird. Es gibt aber nicht nur selbst mitgebrachte Hardware in Aktion zu erleben, auch einige Originalrelikte der Erstbesteiger Chris Bonington, Rusty Baillie und Tom Patey aus dem Jahr 1966. Als da wären einige Holzklemmkeile, die sie in den Bröselrissen versenkten, um sich daran hochzuziehen.
Man ist geneigt, darüber zu lächeln, hier technisch hochzuklettern, doch diese Überheblichkeit vergeht einem schlagartig, wenn man, wie mir passiert, sich in der dritten Seillänge versteigt und in nicht beklettertes Gelände gerät. Denn dann ist auf einmal alles bröselig, es gibt kaum soliden Grund für Klemmgeräte und ein 10-Meter-Sturz auf die schuttgefüllten Bänder könnte mit Querschnittslähmung geahndet werden. Nein nein, der berühmte Sir Bonington hat nicht nur die Vision gehabt, in den 60er Jahren diesen Felsen in einer Ecke der Welt zu besteigen, wo, sagen wir, Felsklettern nicht gerade Volkssport war und dies in einer sensationell guten Taktik. Die erste Begehung war technisch und bewies die Machbarkeit des Vorhabens. Im Jahr drauf kam er mit einem Filmteam der BBC zurück und führt die freie Begehung durch. Zu einer Zeit, als Kurt Albert 12 Jahre alt war und vom Klettern noch nichts gehört hatte. Bei der BBC-Aktion wurden auch einige Bohrhaken gesetzt, deren rostig vergehende Reste man ebenso noch bewundern kann. An den Ständen blättern sich zurückgelassene Abseilkarabiner in ihre dünnen Aluminiumschichten auf – die Seeluft ist unerbittlich gegenüber jeder Form von Metall.
Auf den Felsbändern sitzen die berühmt-berüchtigten Fulmare. Anders als die tausenden Möwen, die sich den Lebensraum Seastack mit ihnen teilen, beschränken sich die Fulmare nicht darauf, ihren Enddarm über den kletternden Besuchern zu entleeren oder nach ihnen zu schnappen. Sie haben eine einzigartige Möglichkeit entwickelt, ihre Feinde mit halbverdautem Mageninhalt zu bespucken, der ätzend wirkt und bei Unvorsichtigkeit das Augenlicht kostet. Also verwendet man beim Anklettern von Bändern folgende Taktik:
1. Ganz kurz drüberschauen wer da wohnt. Sind es Möwen, vorsichtig weiter.
2. Ist es ein Fulmar, besänftigend auf ihn einreden, die Augen schützen und warten, bis der Bursche seine ätzende Ladung hochgewürgt hat.
3. Fängt er an zu spucken, wieder unter das Band abtauchen. Die meisten würgen erst locker drei mal hoch, ehe die Ladung losgeht.
4. Ist der Fulmar leergespuckt, kann man vorbeiklettern. Ein freundliches Wort entspannt die Situation.
Die letzte Seillänge ist ein Riss, den ich wieder vorstiegen darf. Auf zwei Drittel Höhe stelle ich mit leichtem Schaudern fest, dass man nach 2 Seiten durch den Riss hindurch auf das Meer sehen kann. Der Gipfel besteht aus 2 eckigen Teilsäulen, die jeweils mit einer Seitenkante aneinanderstoßen, wie der Kreuzungspunkt beim Zeichen für unendlich. Zu Hause lese ich bei Wikipedia:
“ Der Old Man of Hoy ist ein Brandungspfeiler an der Westküste der orkadischen Insel Hoy in Schottland. Er ist wahrscheinlich nicht älter als 250 Jahre und könnte bald zusammenstürzen… 1992 tauchte ein vierzig Meter langer Riss auf, der dazu führte, dass ein gewaltiges Stück überhängt. Dieses dürfte in absehbarer Zeit kollabieren.“
Beruhigend. Gut, dass ich das nicht vorher gelesen hatte. Auf der etwas höheren Fläche des zweigipfligen Tops finden wir zwei Steinmänner, liegen faul in der Sonne und genießen diesen surrealistisch wirkenden Moment, im äußeren Schottland, beim Bräunen. Norden – ich fange an, Dich zu lieben!
Fotos: Björn Olausson und Gerald Krug
Mehr Fotos von der Old-Man-Tour auf www.olausson.de
Flug über den Gipfel: siehe hier:
Das selbst-Ansichern von Routen, die Arbeit mit Haken, Klemmkeilen und Friends wird erklärt im Geoquest-Buch Hexen und Exen und das gibts: hier!