von Ingo Röger
Seit über 17 Jahren begleitet mich das Gesäuse – jenes 1800 Meter tiefe Durchbruchstal in den Ennstaler Alpen – durch mein Bergsteigerleben: auf Tageswanderungen, einer Hüttendurchquerung, auf versicherten Steigen und immer wieder als abwechslungsreiches Alpinkletterziel.
Nachdem ich vergangenes Jahr mit den Dresdner Kletterfreunden am anderen Ende der Alpen weilte, konnte ich sie dieses Jahr vom „Xeis“, wie die Region bei den Steirern genannt wird, überzeugen. Die Gründung des Gesäuse National Parks vor 10 Jahren hat in Bezug auf naturnahen Tourismus manche positive Veränderung bewirkt: Naturlehrpfade für Groß und Klein, ein funktionierendes Ruftaxisystem und von uns als besonders angenehm wahrgenommen: ein herrlich in Gstatterboden am Fuße der Planspitze gelegener Campingplatz (600 m) mit vielen Annehmlichkeiten (freundliche Selbstversorgerräume mit Kamin, Feuerstelle, W-LAN und komfortable Sanitäreinrichtungen). Kein Wunder, dass wir uns hier wie zu Hause fühlen.
Hat es mich bei früheren Besuchen in die Südwände gezogen, so steht heuer zunächst die mächtige Nordwandmauer von Planspitze (2117 m) und Hochtor (2370 m) auf dem Programm.
Nach einer abenteuerlichen Akklimatisationswanderung ins Ödkar – hier bewundern wir die großartige Linie der Ödsteinkante – sind wir schon am zweiten Urlaubstag motiviert für die klassische Nordwestwand von 1923 (4+, 450 hm, 14 SL) an der Planspitze: Wecken 5:00 Uhr, Abmarsch 6:20 Uhr, bereits 8:40 Uhr stehen wir in schweißnassen Hemden knapp 1000 Meter über dem Zelt am Einstieg. Es ist trüb und windig, die versprochene Sonne sehen wir in einiger Entfernung unter den Wolken hindurchlugen – nur bei uns macht sie sich rar.
In zwei Seilschaften steigen wir nacheinander ein. Nach einigen schrofigen Längen wartet alpine Vielfalt im Mittelteil: los geht’s mit zwei Verschneidungen von ganz unterschiedlichem Charakter: eine kurz, steil und rau, die andere ein lang geneigtes Teil mit einem kleinen Dach als Würze. Es folgen Platten, dann wieder leichtere Passagen. Ich stehe bibbernd am Stand, bis Georg Mitleid hat und mir seine Kunstfaserjacke leiht. Eine luftige Querung leitet das steile Finale ein, das mit verwirrender Wegführung über Bäuche und abdrängende Strukturen aufwartet.
Da sind auch schon die Drahtseile des Pichlbandes (Teil der klassischen Nordwand von 1900) und wenig später rasten wir am Ausstieg bei der breiten Seescharte (1968 m).
Allerdings ist es inzwischen auch schon 17:00 Uhr, und wir sind noch nicht einmal am Gipfel. So wird es fast 18:00 Uhr, bis wir in großem Bogen auf alpinem Steig den höchsten Punkt erkraxelt haben. Wow, was für ein Tiefblick. Unter uns ein abenteuerlich steiles Gemäuer aus Platten und Bändern und winzig klein zu unseren Füßen – 1500 Meter tiefer – Georgs Bus und das Zelt. Zügig steigen wir ab.
Die Ausgesetztheit des Wasserfallweges erfordert Konzentration; Zeit zum Schauen und Genießen bleibt kaum. Im Dunkeln erreichen wir die Kummerbrücke. Nun „nur“ noch drei Kilometer mit Stirnlampe im Tal zurück zum Zelt (21:05), anschließend duschen, kochen, essen und aufwaschen. Um Mitternacht liegen wir nach einem prächtigen Bergtag einigermaßen erschöpft in den Schlafsäcken.
Ich habe die Oberst-Klinke-Hütte (1486 m) in guter Erinnerung und so quartieren wir uns dort für ein paar Nächte ein. Die Süd- und Westwände von Kalbling (2196 m) und Sparafeld (2247 m) stehen auf dem Programm. Aufgrund von Streitigkeiten zwischen dem derzeitigen Hüttenwirt und dem Admonter Alpenverein werden wir die letzten Gäste sein, bevor in zwei Wochen ein neuer Wirt das Zepter übernimmt. Uns soll’s egal sein, eine morbide Endzeitstimmung ist dennoch zu spüren.
Mit Georg starte ich erst gegen Mittag in den Waidhofener Weg (5+, 220 hm, 7 SL) am Kalbling: beim Zustieg über Schrofen ist es wolkig, in der ersten Länge kommt Nebel auf, in der zweiten fallen ein paar Regentropfen und in der dritten gar drei Schneeflocken. Unterm Ausstieg reißt es auf. Die Sonne wärmt im kalten Wind nur wenig, der freie Blick über Haller Mauern, Ennstal, Grimming und Dachstein in der Abendsonne sorgt dennoch für ein jubelndes Herz. Zurück zur Tour: Die zweite Länge soll „nur“ 5+ sein. Mit Eisfingern und Rucksack fühlt sich das scharfkantige Piazgehangel in einer sonst kompakten Wand an wie ein Siebener, ich bin frustriert. Die Lust kommt in der nächsten Länge wieder: in einer edlen Verschneidung hoch über dem Tal.
Mit Tobi klettere ich den klassischen Südgrat (4/A0, 300 hm, 14 SL) ausnahmsweise mal durchweg bei Sonnenschein und erhöhe dabei die Zahl meiner Kalblingbesteigungen auf fünf. Für die Diagonale (6, 220 hm, 7 SL) am Sparafeld ist wieder Georg mein Partner. Anders als am Kalbling queren wir hier erst einmal gut zwei Stunden über steile Schrofen hinüber zum Einstieg. Der lange Weg lohnt auf jeden Fall: Mittlerweile gut gesichert, bietet die Route spannende Kletterei über Platten und entlang einer feinen Hangelrissspur. In der fünften Länge meistern wir eine exquisite Untergriffhangelei und im Anschluss darf ich nochmal auf dem kompakten Abschlusspfeiler ran. Bei Sonne gestartet, fegt uns mittlerweile ein Föhnsturm fast aus der Wand.
Zurück auf dem Campingplatz gehen wir für eine Tour „fremd“: Der Fledermausgrat (4, 200 hm, 11 SL) auf die Vordernberger Griesmauer (2015 m) liegt östlich des Präbichl-Passes (1228 m) und damit im Hochschwabgebiet. Hier ist die Landschaft lieblicher als in den wilden Gesäusebergen, zupacken muss man beim Klettern an manchen Stellen aber trotzdem.
Der Grat bietet einen munteren Wechsel von reizvollen Steilstufen in festem Fels und luftigen Gratabschnitten. Dabei erhebt er sich nie wirklich bedrohlich weit über die grünen Almwiesen: unbeschwertes Plaisirklettern, das bei Sonne und Windstille sogar an Sommer erinnern mag. Nur einmal wird die Idylle aufgeschreckt: Ein gewaltiges Horn warnt mit tiefem Ton, bevor die tägliche Sprengung am mächtigen Erzberg das Tal erzittern lässt.
Unaufhaltsam naht unser Finale. Eine dreitägige Gesäuseüberschreitung ist geplant. Mit vollen Rucksäcken starten wir zu Füßen des Hochtores, quasi als Erwärmung zwei Stunden das Haindlkar hinauf. Auf der gleichnamigen Hütte (1120 m) lassen wir uns den Knödelteller schmecken. Was jetzt kommt, ist kein Wandern mehr, aber auch noch kein richtiges Klettern: Der legendäre Peternpfad (1-2) auf die Peternscharte – mitten durch diese wilden Nordwandfluchten. Ich empfinde die steilen Geröllabschnitte auf dem Zustieg am unangenehmsten, in den Felspartien macht das Steigen hingegen richtig Spaß: kurze, lustige Felsaufschwünge und Pfadabschnitte auf grasigen Bändern wechseln einander ab. Vom berühmten „Ennstaler Schritt“ bin ich fast ein wenig enttäuscht, hatte ich doch noch eine ausgesetztere Stelle erwartet. Das ändert aber nichts an der kühnen Wegführung dieses Steiges. Über Geröll und scharfkantige Karstformationen erreichen wir am späten Nachmittag die gut besuchte Hesshütte (1680 m).
Am nächsten Morgen erwartet uns Wind, auch viel Sonne und der kürzeste Zustieg des Urlaubs. Bei meinem ersten Anlauf im Juni 1999 blieb unsere geplante Hochtorbesteigung förmlich im Neuschnee stecken. Heute könnte uns nur der Wind das Leben schwer machen. Nach 15 Minuten stehen wir am Beginn des Rossschweifs. Dieser lange Grat – ein Klassiker aus dem Jahr 1893 – bietet abwechslungsreiche Klettererei in den unteren Schwierigkeitsgraden (bis 3-, 1000 m) und bringt uns auf den höchsten Gesäuseberg. Zunächst steigen wir seilfrei über den schmaler werdenden Rücken hinauf. Auf etwa 2000 Metern Höhe wird der Grat so luftig, dass wir das Seil herausholen: der Spaß kann beginnen.
Wir gehen am laufenden Seil. Zu den fünf alten Schlaghaken haben sich über die gesamte Route inzwischen ebenso viele Bohrhaken dazugesellt. Wir achten darauf, dass immer mindestens eine solide Zwischensicherung (z.b. Köpflschlinge) zwischen uns liegt bzw. der Seilverlauf über die Gratzacken einen Absturz verhindern würde. So kommen wir nach einigen Startschwierigkeiten immer besser voran. Nach einem markanten Grateinschnitt erwarten uns zwei mächtige Reibungsplatten. Auch hier brauchen wir keine Kletterschuhe; bei Nässe, Eis oder Schnee möchten wir hier aber ungern drüber eiern. Der warme Wind sorgt heute jedoch für besten Grip unter den Sohlen. Links genießen wir den Blick auf den nahen „Tellersack“, einen Kessel mit mächtigen, abwärts geschichteten Kalkplatten, rechterhand grüßt der eigenwillig glatte Gratabschnitt des „Dachls“ herüber. In immer leichter werdender Kletterei schrumpfen die letzten Höhenmeter im Handumdrehen. Bei Sonne stemmen wir uns gegen den orkanartigen Wind am Gipfel. Aus dem Windschatten eines Felsklotzes heraus genießen wir die Sicht: Im Norden ist jenseits des Donautales deutlich der Böhmerwald zu erkennen und davor grüßen rechts des Ennstales die Berggruppen der Nördlichen Kalkalpen, während sich südlich davon die dunklen Pyramiden der Niederen Tauern aufreihen.
Der Abstieg über den Josefinensteig ist noch einmal ein kleines Geduldsspiel mit einem scheinbar nicht enden wollenden Auf und Ab an Drahtseilen, bevor der Steig in die Tiefe leitet und wir auf der Hütte den verdienten Kuchen genießen können. Anderntags steigen wir auf gemütlichem Weg hinab ins Bergsteigerdorf Johnsbach und lassen den Festkogel (2272 m) und seine legendären Südwandplatten schweren Herzens rechts liegen. Den letzten Abend auf dem Campingplatz feiern wir mit Nudeln, Wildfleisch, und einer imposanten Gemüsepfanne. Mit dem Kopf voller Erinnerungen und einem gut gefüllten Tourenbuch geht es gen Heimat.
Fotos: Georg Beierlein