Eine Expedition nach Albanien 2010
von Christiane Hupe
„Rooock“ höre ich noch, dann beginnt der Beschuss. Ich kann nicht weg und um mich herum pfeifen die Steine herab. Bei einem hektischen Blick nach unten muss ich feststellen, dass sich meine letzte Sicherung, ein Keil 5 Meter tiefer, gerade aufgrund der veränderten Zugrichtung verabschiedet hat. Einen neuen „Flugzeitverkürzer“ zu legen, scheitert am knusprigen Fels um mich herum. Das Bombardement von oben wird schlimmer, also bleibt mir nur die Flucht nach vorn. Zehn Meter über mir ist ein kleines Dach, dort bin ich geschützt. An einem lausigen Stopper gesichert, bohre ich „meinen“ Stand.
Was ich hier mache? Ich bin Mitglied der Arapi-Expedition mit dem Ziel, die letzte 1000-Meter-Wand Europas frei zu durchsteigen. Auf die Wand wurden wir durch das Foto eines Freundes aufmerksam und über ein Jahr hinweg wuchsen Team- und Sponsorenliste langsam aber stetig. Mitte Juli war es dann endlich so weit. Mit dem Bus machten wir uns zu viert (Gerald Krug, Steffen Heimann, Axel Hake und ich) sozusagen als Vorhut, auf gen Süden. Im klassischen stop-and-go- Stil (klettern-fahren-klettern) ging es binnen zehn Tagen durch Kroatien und Montenegro ins Land der Skipetaren: nach Albanien.
In Tirana wurden wir von Tine Schrammel, einer GTZ-Mitarbeiterin aus Dresden (natürlich frönt auch sie in ihrer Freizeit dem Vertikalvergnügen) in Empfang genommen. Mit der für Kletterer so typischen Selbstverständlichkeit fragte sie uns, ob wir schon wüssten, wo wir unterkommen würden. Wenn wir wollten, könnten wir auch auf ihrem Balkon nächtigen. Eine Einladung, die wir nur zu gern annahmen.
Nachdem die Expeditionsmitglieder um den Albaner Gerhard Duro und den Amerikaner John Ely erweitert wurden, hieß es Lebensmittel (vor allen Bier und Schokolade als Grundnahrungsmittel) für mindesten 14 Tage und 10 Personen im Wirrwarr der albanischen Metropole zu organisieren.
Am nächsten Morgen fuhren wir dann mit dem Bus und einem Jeep der GTZ in das nordalbanische Alpendorf Theth. Das Tal ist nur schwer erreichbar und die letzten 30 Kilometer sind erbärmlich schlechte Piste. Trotz, dass Steffen seinem Bus alles abverlangte, war ca. 300 Meter vor dem Basislager Schluss, ab hier musste dann doch die große „Schwester“ Mercedes helfen.
Die erste Nacht verbrachten wir in einem der Gästehäuser des Dorfes. Bei Raki, dem ebenso ortsüblichen wie unvermeidlichen Obstschnaps, sowie Maisbrot und Eintopf wurden wir willkommen geheißen und knüpften Kontakt zu den Einheimischen. Bei ihnen würden wir uns zwischendurch mit frischem Brot und Milch versorgen. Dies sind die einzigen Konsumgüter hier oben, denn einen Laden gibt es nicht.
Zwei Tage später werde ich um 5 Uhr durch Geralds Wecker meinen süßen Träumen entrissen. Aber, mal ehrlich, was gibt es Schöneres, als zu wissen, dass man noch selig zwei Stündchen schlafen kann.
Der Plan für den Tag sieht so aus, dass Gerald und Axel so weit wie möglich klettern und unterwegs nur die allernötigsten Sicherungen anbringen. Gerhard, unser albanisches Teammitglied und ich präparieren dann die ersten Seillängen mit Fixseilen, statten die Stände Pit-Schubert-gerecht mit jeweils 2 Bohrhaken aus und ergänzen an heiklen Stellen den einen oder anderen Silberling.
Am Wandfuß angekommen, nimmt unser albanischer Freund Gerhard mich in die Sicherung. Bei einem Blick auf seine Acht stelle ich fest, dass er sie nur in einem normalen Karabiner eingehängt hat. Ich bitte ihn, einen Schrauber zu nehmen, weil das sicherer ist. Als wir dann Partnerscheck machen, sehe ich, dass er auf jeden Fall die Bremshand falsch hält. Was tun? Ihm hier auf dem Absatz erklären wie man richtig sichert? Zurückgehen und unten einen Crashkurs machen?
Es ist schon in unserem ja angeblich so emanzipierten Mitteleuropa eine schwierige Situation, wenn eine Frau in einem Sport wie Klettern mehr Erfahrung hat, als ein Mann. In Albanien ist die Situation, trotz Handyempfang im Bigwall, als wäre man im 18. Jahrhundert. Ich beschließe, es erst einmal mit Verdrängung versuchen. Der untere Wandteil sieht leicht aus, so dass ich das Risiko kalkulieren kann. Und wer weiß, ich kenne viele Kletterer, die das Bremsseil falsch bedienen und trotzdem einen Sturz halten können.
Die ersten zwei Seillängen in schönem festem Felsen klappen wie am Schnürchen. In der Dritten wird es, dass kann ich schon von unten sehen, ernst. Ich klettere in Richtung Crux, die ich im Nachhinein mit UIAA 7 bewerte. Plötzlich ertönt ein mir nur zu bekanntes Geräusch. Gerhards Handy klingelt. Seelenruhig geht er ran und telefoniert erst mal ausgiebig. Jetzt meckern bringt ja eh nichts. Ich sage Gerhard, er soll das Telefon bitte lautlos stellen und dass man nicht telefoniert, während man andere Leute sichert. Kurze Zeit später, ich bin gerade dabei, mich mit Bohrmaschine und Fixseil quasi als kleine Zusatzgewichte, über die Schlüsselstelle zu kämpfen, klingelt sein Handy erneut. Nun werde ich aber doch sauer!
Wer dachte, ich hätte vielleicht ein Problem, sollte sich getäuscht haben, denn meine Probleme fangen hier erst an: Der Routenverlauf wird unklar, dafür die Sicherungsmöglichkeiten schlechter und der Fels sukzessive brüchiger. Gerhard kontaktiert über Funk das erste Team, damit ich eine grobe Orientierung bekomme. Leider gehen in der Deutsch-Englisch-Deutsch-Übersetzung, über 20 Meter gerufen und dann gefunkt, kleine Details, wie die Nummer der Seillänge verloren. Die Folge ist, dass ich aus der Routenlinie herausklettere, … und so sind wir wieder am Anfang des Artikels.
Nachdem ich den falschen Stand gebaut habe, ziehe ich noch das restliche Fixseil hoch, und verschwinde dann schnellstmöglich aus der Falllinie der herab pfeifenden Steine. Die Taktik, dass ein Team vorklettert und das zweite fixiert, geht also nicht auf.
Noch am selben Tag bekommt Gerhard quasi eine Teilnehmerschulung und lernt, wie man richtig sichert und jümart. Er saugt das Wissen geradezu auf und kann es schnell umsetzten. Es war also doch kein Fehler ihn mitzunehmen und unser Ziel ist es ja auch, den Klettersport nach Albanien zu tragen.
In den folgenden Tagen wird die Route weiter vorangetrieben. Wir wechseln uns mit dem Erstbegehen und Fixieren ab. Auch im Basislager muss immer einer „Dienst“ tun. Täglich kommen Einheimische und Touristen zu uns und wollen wissen, was wir hier tun. Bei einem Kaffee und einem Blick durch das Teleskop können wir ihnen einen Eindruck von unserer Vision vermitteln.
Aber auch wir erfahren viel Interessantes. Die Gegensätze von Dorf und Stadt sind in Albanien extrem. Durch ein Gespräch mit einem jungen Hirten erfahre ich, das er weder lesen noch schreiben kann. Er hat zwar als Kind acht Jahre lang die Schule besucht, aber nicht wirklich etwas gelernt. Auch heute ist im Dorf nur dann Unterricht, wenn der Lehrer nichts Besseres beziehungsweise Lukrativeres zu tun hat. Als ich den Hirten frage, ob er eine Frau hat sagt er, „Nein, seine Eltern hätten sich noch mit niemanden auf eine Heirat geeinigt“. Arrangierte Ehen mitten in Europa, da ist man schon überrascht.
Drei Tage später kommen die zwei letzten Expeditionsteilnehmer, Ferdinand Triller und Daniel Wilhelm, sowie das Kamerateam des Bayrischen Rundfunks, bestehend aus Sepp Wörmann, Hannes Hochleitner und dem Filmemacher Peter-Hugo Scholz, im Basislager an. Da wir jetzt acht Kletterer sind, haben wir noch Zeit, an einem Nebengipfel im Hochtal 3 kürzere Mehrseillängentouren einzurichten.
Nach drei weiteren Tagen in der Wand ist es dann so weit, es besteht eine realistische Chance, auf den Durchstieg. Gerald und Axel treiben die Route voran, Daniel und Ferdl versuchen die erste Team-Free-Begehung. Als Lagerdienst kann ich den ganzen Tag lang zuschauen, wie die Jungs vorankommen. Und sie sind schnell! Schon gegen 18 Uhr sind Gerald und Axel in der letzten Seillänge als ich plötzlich ein ohrenbetäubendes Krachen höre. Durch das Fernrohr sehe ich Staubwolken und funke hoch, ob alles in Ordnung ist. Axel hat auf den letzten 5 Metern zwei riesige Blöcke rausgeholt und einer der beiden ist ihm auf den Fuß gefallen (im Nachhinein wird sich herausstellen, dass ein Zeh böse gebrochen ist). Da Axel sich den ungesicherten, steilen Abstieg am Wandfuß nicht mehr zutraut, wollen sie auf das Abseilen verzichten und lieber hinten herum absteigen. Aber sie haben ihre Schuhe am Einstieg gelassen. Ich suche im Basislager alle die Schuhe zusammen, welche mehr als Badelatschqualität aufweisen und mache mich zu Fuß auf den Weg in Richtung Gipfel. Um neun Uhr sind alle sicher und (mehr oder weniger) wohlbehalten im Basislager und können die Erstbegehung gehörig feiern. Hugo hat zum Tag des Gipfelsiegs im Dorf ein Lamm bestellt und dieses lassen wir uns zu Raki am Lagerfeuer schmecken.
Nachdem wir unserem Kater einen Tag seinen Tribut gezollt haben, machen sich Steffen und ich in die Wand auf. Das Ziel ist die erste Rotpunkt-Begehung. Die vier Jungs haben mich mit allerhand Tipps zu den Schlüsselstellen ausgestattet, so dass es zumindest in der Theorie schon mal passt.
Alles läuft super, ich steige vor und Steffen, klettert und jümart hinterher. Die erste Crux, eine überhängende 8- Stelle, kenne ich schon aus zweimal Nachstieg. Drei Seillängen weiter beginnt Neuland. Die zweite Schlüsselstelle, auch 8-, ist eine Hangel unter einem drei Meter-Dach. Und siehe da, sie geht gleich im flash. Nur flash? Ja, Gerald hatte mir verraten, dass nach dem Dach ein Loch mit einer Wurzel kommt, die man benutzen muss, danach steigt man in einem kleinen Bäumchen aus. Die Wurzel finde ich nicht und so mache ich einen letzten, verzweifelt weiten Zug zum untersten Ast.
Nun heißt es, noch einmal alle Kräfte sammeln. Es folgt mit 8 die schwerste Seillänge: ein weit ausladendes Hangeldach mit runden Griffen, dafür aber abschüssigen Tritten. Es ist nicht gerade mein On-Sight-Niveau. Kurz vor dem Dach ist noch ein No-Hand und so klettere ich dreimal vor und zurück, denn ich will es mir ja nicht versauen. Dann geht es los! Steffen peitscht mich geradezu voran, er verspricht mir bessere Griffe, die natürlich nicht auftauchen. Noch ein Meter! Am Ende des Daches wartet ein weiterer No-Hand. Jetzt muss man dieselbe Strecke des Daches oben raus zurückhangeln, jedoch ohne Tritte auf dem glatten Kalkstein. Ich kämpfe mich vor, erreiche den letzten Griff, bevor es leichter wird. Aber was ist das? Der Griff ist noch voll mit Erde, meine Finger beginnen schon zu rutschen, ich muss den Fuß hochbringen, um durch einen Hook die Hände zu entlasten. Und dann passiert es, beim Hochtreten rutscht der linke Fuß weg und die Schwerkraft beginnt ihr unerbittliches Werk. Freiflug! Acht Meter tiefer kommt der Fangstoß. ‚Ist doch der Wahnsinn, dass so ein dünnes Seil hält!’
Ich ziehe mich zum No-Hand zurück, und im zweiten Versuch klappt dann alles. Schade, die Zeit reicht nicht mehr für einen neuen Versuch von unten, denn es kommen noch fünf volle Seillängen. Also nur Pinkpoint!
In der vorletzten Seillänge verlaufe ich mich dann noch einmal ganz fürchterlich. Die letzte Sicherung, ein #0-er TCU liegt circa acht Meter unter mir. Eigentlich sollte ich mir Gedanken machen, aber Mut und Einsicht fallen leider selten zusammen. Also ziehe ich mich, in der trügerischen Hoffnung, irgendwann was legen zu können, mit etwas Schwung und ohne Tritte auf ein schmales, abschüssiges Band. Fehlanzeige! Aber 3 Meter weiter oben, da kommen doch Risse! Ich klettere weiter. Langsam steigt Panik auf, keiner der kleinen Keile passt, an einen Friend ist gar nicht erst zu denken, die Risse sind zu flach um eine Sicherung aufnehmen zu können. Nun wünsche ich mir doch etwas weniger von diesem oft so begehrten Pflänzchen namens Mut! Nach kurzem Durchatmen schaltet sich das Selbstbetrugstonband im Kopf an. „Du konntest es hochklettern, also kannst du es auch wieder abklettern, und überhaupt ist das doch gerade mal 7 …“
Vorsichtig, Zug um Zug kämpfe ich mich zurück. Es kostet unendlich viel Kraft und Nerven! An dem abschüssigen Band geht es nicht zurück, immer wieder klettere ich hoch und runter, aber meine Füße erreichen keine Tritte. Nur durch den Gedanken, dass mir hier keiner helfen kann und es bald dunkel wird, schaffe ich es, den Schneid zusammen zu nehmen und mich an die Sloper zu hängen.
Steffen erzählte mir später, dass er sich während meines Manövers schon ein Plan zurechtgelegt hatte, wie er mich im Falle eines „Falles“ aus der Wand raus bringt. Auch auf ihn hat meine Performance also wenig überzeugend gewirkt!
Der Rest der Tour ist Kür und im letzten Tageslicht stehen Steffen und ich glücklich auf dem Gipfel des Arapi.
Aber, wie es uns unsere älteren Bergkameraden mit erhobenem Zeigefinger gelehrt haben: „Die Bergtour ist erst zu Ende, wenn man wieder unten ist!“ – Genau! Abseilen ist angesagt. Wir machen, da es schon dunkel ist, Knoten in die Seilenden. Da diese sich jedoch, wie sollte es anders sein, so gnadenlos verheddern und der Wind sie immer wieder wegweht, verzichte ich im Folgenden darauf. Jetzt heißt es gut aufpassen, nicht das man am Ende eines so erfolgreichen Tages noch ins Basislager „fliegt“. Nach der Hälfte beginnt glücklicherweise die Fixseilstrecke und somit wird das Abseilen leichter und schneller.
Pünktlich um Mitternacht laufen wir ins Basislager ein. Noch ein paar Nudeln und einen Raki zur Feier des Tages und dann falle ich wie tot um.
Am nächsten Tag starten Daniel und John, sowie Gerald und Gerhard in die Wand. Daniel holt sich souverän die erste Rotpunkt-Begehung und Gerhard mit über 400 Metern bis zur Wandmitte seine bisher höchste Kletterei.
Noch einen Tag ausruhen und dann heißt es Basislager abbauen und Abschied nehmen, vom Tal, vom Arapi und den netten Leuten aus Theth.
In der nächstbesten Kneipe feiern wir alle zusammen unsere erfolgreiche Expedition. Die Hälfte der Expeditionsteilnehmer kehrt zurück nach Deutschland und auch Axel tritt, mit eben so viel Wehmut wie Humpelei, den Heimweg an. Er wäre gern noch geblieben und hätte mit uns „Bohrlaub“ gemacht.
Zu fünft geht es zurück nach Tirana um dort ein Klettergebiet einzurichten, denn wir wollen ja nicht, dass Gerhard der einzige Sportkletterer Albaniens bleibt.
John kennt ein tolles Gebiet in dem alles da ist: Bovilla. Leichte liegende und senkrechte Routen, Risse und überhängende Wände mit Sintern. Ein Traum aus Kalk! Auch das Surrounding lässt nichts zu wünschen übrig, ein klarer Fluss hat sich tief in den Kalkstein gegraben und wunderschöne Pools zum Baden gebildet. Die Bohrmaschinen haben rotiert und in den folgenden drei Tagen entstanden 14 Sportkletterrouten in den Graden 4-9 und somit das erste Sportklettergebiet Albaniens.
Und hier die Fakten:
Raki am Arapi
800 mH
970 Klettermeter
18 Seillängen
UIAA 8 (7 obl.)
Topos und weitere Infos unter www.geoquest-verlag.de
Sponsoren: Alpinbox, Bosch, DAV, Deuter, Geoquest, IG-Klettern und Skylotec.