Sizilien, das erste Mal. Mit 70. Der erste Klettertag ist vorbei und ich weiß noch nicht, ob ich todtraurig bin oder glücklich.Ja, beides vielleicht sogar zugleich – ich habe mich noch nicht entschieden. Habe ja bis jetzt nicht gewusst, dass hier am Südzipfel des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation die (Kletter-) Welt am schönsten ist! Und deshalb bin ich todtraurig, weil ich erst kurz vor dem Lebensende diese schöne neue Welt entdeckt habe und auch sehr, sehr glücklich, dass ich das noch erleben durfte. Danke Gorbi, danke Helmut Kohl und danke an die restliche und ganze Welt, dass ich endlich und heute hier sein durfte.
Vermutlich wegen der schönen zu warmen Sonne habe ich nachgedacht; zwei Gedanken habe ich notiert:
Zuerst: Es wird hier immer merkwürdiger, es scheint das beste Klettergebiet, Landschaftsgebiet und Menschengebiet der Welt zu sein.
Begründung zum Klettergebiet: Ein noch besseres müsste noch wolkenloser sein, wir hatten schon in den ersten zwei Tagen eine kleine Wolke. Die Tagestemperatur hier im November müsste noch ein bis zwei Grad tiefer liegen und die Anstiege zu den Felsen müssten statt 100m unebenen Kiesweges rollstuhlgerecht ausgebaut sein!
Zur Landschaft: Diese Symbiose zwischen Land und Meer ist hier einzigartig. Was nützt dir guter Fels, wenn du nicht hinterher an endlosen Stränden mit Hilfe sanft streichelnder Wellen dir Sack und Seele von klarem blauem Wasser reinigen lassen kannst? Wie hier! Und die Menschen sind sowieso nur die besten, es sind ja nur wir. Wir Sachsen haben das San Vito la Capo fast allein in dieser Jahreszeit. Außer den jungen Mädels. Die paar Kerle haben wir geflissentlich übersehen.
Zuzweit: Die Sonne wurde wärmer, es kamen Gedanken über das Klettern auf. Ich habe mal eine Frage, warum Klettern wir? Es gibt ja nur noch wenige Fragen, die die Menschheit noch nicht beantwortet hat. Zum Beispiel, warum stehen auf Sizilien Verkehrsschilder, wenn sie sowieso nicht beachtet werden. Oder, warum wachsen dort so viele schöne Kakteen, wenn sie niemand gebraucht. Und, ja, die obige Frage, wenn wir mal Frauen als Thema grundsätzlich ausklammern, warum Klettern?
Bei meinen Bergfreunden ist diese ganz einfach zu beantworten, sie klettern immer seit Kindheitsbeinen, haben keine oder wenige anderen Interessen und sind immer fröhlich, frank und frei. Bei mir scheint das anders zu sein. Es ist eine Krankheit, es ist eine Sucht, ich möchte nicht mehr Klettern. 52 Jahre reichen. Es gibt noch so viel zu tun auf dieser Welt, zu sehen, zu fühlen. Alle fünf Sinne schreien nach mehr und die Zeit, die noch bleibt, schmilzt dahin! Ich möchte nicht mehr alle toten und lebendigen Gegenstände als Kletterer oder kletterbar einstufen. Nicht mehr die Brüste einer Frau als großen oder kleinen, als festen oder ungeeigneten Griff ansehen. (Das musste ich jetzt schreiben, mindestens einen erotischen Satz, sonst liest das mein Kletterfreund Peter nicht!). Lieber Gott lass mich bitte normal sein!
So, die anderen Gedanken schreibe ich nicht, es würde nicht besser.
Palermo
Am Ruhetag, nach zwei Tagen klettern, mussten wir nach Palermo. Um das Grab des Stauferkaisers Friedrich II. zu sehen und zu ehren. Also Dago und wir fünf anderen mit. Am Ende hat sich die Stadt bei mir tief eingeprägt: Einmal Palermo und nicht wieder. Ein guter Rat an alle Palermobesucher: Am Ende des Urlaubes hinfahren, dann sind alle ausgeruhten Nerven wieder dahin. Mit dem Auto, am Steuer, einfach planlos mit den Navi (trotz Navi) einfach mal ins Stadtzentrum hineinfahren, wie wir. Das ist schön, schön italienisch, sizilianisch. Du fährst im Schritttempo endlose enge Häuserschluchten entlang, im Stau, im größten Verkehrschaos Europas. Du wirst links und rechts überholt und erwartest sekündlich einen Zusammenstoß. Und schon ist der halbe Tag rum und wenn du ganz am Ende bist, hat der sizilianische Sonnengott ein Einsehen und einen Parkplatz am Hafen. Dann ist auch Palermo wieder schön: Der Hafen, der Botanische Garten, der Fischmarkt, der Bagettverkäufer mit den gewürzten Flecken, die Cattedrale mit der Aussicht über der Stadt, die fröhlichen, lustigen, hübschen Mädels im bunten großen Spielzeugautocorso.
Trotzdem bleibt der Eindruck einer schmutzigen, engen und morbiden Stadt. Deshalb habe ich mir erlaubt, dem Bürgermeister im Festsaal des Municipio in der Via Vittorio Emanuele meine Zukunftspläne für die Stadt kostenlos zu präsentieren. Ich habe ganz einfach das Foto der Rundsicht von Turm der Cattedrale ausgedruckt und an den sehens- und erhaltenswerten Kulturbauten ein Kreuz gemacht. Dann ganz einfach mit einer ganz großen Planierraupe alles nicht angekreuzte wegschieben oder das angekreuzte an einem neuen schönen würdigen Platz umsetzen. Da hat er aber geschaut, der Monsignore Orlando. Und ich habe den Ausgang ganz schnell und gesund noch verlassen können. Undankbar, die Römer.
Über das Klettern nach den ersten zwei Tagen habe ich geschrieben: Unsere Felswände hier am San Vito lo Capo am Nordwestzipfel von Sizilien sind nicht natürlichen Ursprungs, es hat irgendwann ein Kletterer gemacht. Er hat seine schönsten kühnsten und wildesten Träume wahr werden lassen. Über dem Meer hat er einen über 4 km langen Felsriegel geformt, eine Seillänge hoch, damit ein 60 m – Seil langt und du sofort zum nächsten Weg gehen kannst. Und zwischen Meer und Fels hat er noch einen grünen Streifen gelassen, damit du bequem zum Einstieg kommst. Und Platz für den lieblichsten, gepflegtesten und saubersten Campingplatz der Welt, der dadurch auch ohne Schilder dem Kletterer ein herzliches Willkommen entgegen ruft! Und der Fels ist unsagbar freundlich, ein eisenfester steiler Kalk in allen denk- und undenkbaren Formen. Nein, ganz einfach, für mich genau richtig. Genau so, dass ich meine Grenzen fühlen, ausloten kann und dabei unsägliche Freude habe und auch noch dabei sicher bin, das zu überleben. Natürlich muss man dabei aufpassen, trotz optimaler Sicherung sollte man nicht an jeder Stelle runterfallen. Sonst könnte es sein, dass an den Berührungsstellen mal ein Stück Fleisch fehlt, so scharfkantig ist der Fels. Na gut, bei mir sowieso nicht, da ist über den Knochen nicht mehr viel, sagen die anderen. Überhaupt, die anderen; da musst du aufpassen, denen sitzt immer der Schalk im Nacken. Gestern Nachmittag komme ich nach vollbrachter grenzwertiger Tat um die Ecke, da haben die kleinen Schweinehunde für mich ein Seil hängen lasse. „Wunderbare Wand, für dich!“, sagen sie, „genau richtig und leicht, auch wenn es nicht so aussieht!“. Da hab ich das Blitzen in ihren Augen gesehen, da wird der alte Kerl wohl schön abfallen. Wahrscheinlich war ich dadurch so motiviert, dass ich wie durch ein Wunder mit einem Dynamo an der schwersten Stelle hochkomme. Am Abend haben sie beim dritten Glas Wein gestanden, auf diese Art mir zu einer 6b+ verholfen zu haben. Aber die Zahl zählt nicht viel, es ist das Erlebnis!
So, wer bis hier her gelesen hat, es war alles erlogen und erstunken. Es war alles ganz anders. Um mal noch drei Beispiele zu nennen:
Erstens Sex. Wir hatten sagenhaften Sex, abends, nach wenigen Dutzend Bier und dem abendtäglichen kleinen 3 oder 5-L-Kanister sizilianischem Rotwein.
Denn theoretisch waren wir schon immer gut, nicht nur beim Klettern. Aber mit der Praxis tun wir uns manchmal schwer. Wenn da nicht Peter wäre, der uns eines besseren belehrte, s. Fotos. Im Überschwang der Gefühle hat er aber vergessen zu fragen, welche Kletterin ist. Nun muss er sich erneut auf die Suche für die passende Urlaubskletterpartnerin begeben.
Zweitens Wetter. Nach den ersten drei Tagen hatten wir uns festgelegt, so ist Sizilien! Sonnig, warm, windstill und wolkenlos. Eine Wanderung an vierten Tag sollte uns aber eines besseren belehren.
Einschub: den Kletterführer Sizilien gibts hier!
Erst mal sollte ich verraten, Sizilien ist ja fast noch viel besser zum Wandern gemacht als zum Klettern. Jeder Berg eignet sich zum Ersteigen oder zum Umrunden, mit Blick aufs Meer, alte Siedlungen, weiße Dörfer, steile Felswände, Wachtürme, Grotten und Heiligtümer. Wir umrundeten den Monte Cofano und nach einer Stunde schlug das für zwei Wochen vorausgesagte gute Wetter um.
Wir boten dann vermutlich ein grandioses Schauspiel für den restlichen Tag. Regensachenverhüllte Gestalten kämpften sich gegen horizontal peitschende Wasserwände, der Himmel öffnete seine Schleusen. Und unten tobte das Meer. Riesige Wellenberge liefen auf die bizarre Küste zu und brachen dort unterlautem Getöse wild schäumend zusammen. Und sprühte dabei bis hoch zu den Wanderern, denen dabei das Wort „Wasserpulver“ aus den alpinen Bergfahrten wieder einfiel. Das war dann schon wieder ein ganz besonderes Erlebnis, das man bei Schönwettereben nicht hat. Aber deshalb (auch) sind wir ja auf dieser Erde!
Drittens Essen und Trinken. Wenn wir ehrlich sind, wirklich ehrlich wären, würden wir zugeben, eigentlich gar nicht zum Klettern hergekommen zu sein. Wir wollen eigentlich nur einmal im Jahr unter uns Männern sein; sagen dürfen, was wir denken; tun, ohne ständige Einsprüche, Ermahnungen und Vorwürfe; einfach mal ein ganz normales Leben führen, sozusagen unseren Lebensakku wieder aufladen. Aber dazu braucht es auch festes und flüssiges zwischen die Zähne.
Und deshalb ist Peter dabei, und deshalb ist Frühstück und Abendbrot nicht einfach etwas, was so manche Menschen machen, bei uns ist es ein Fest für die Sinne. Wenn du dich schlafen legst, freust du dich schon aufs Frühstück. Das kommt so bunt und reichhaltig daher, dass du bis zum Abend nichts mehr brauchst. Und abends ist kulinarisches Fressfest angesagt. Peter und Dago, unsere zwei Köche verderben nicht den Brei, sondern sind Schuld an der Erfüllung einer ganztägig aufgestauten Freude auf ein reichhaltiges ausgefallenes Abendmenü. Die Speisepläne sind zu Hause schon ausgearbeitet und teilweise vorgekocht: Wildschweinbraten, Eisbein, Krautroulade, Königsberger Klops oder Wildschweinsülze. Und zum Ausklang gibt es abendliche Fachgespräche über ausgefallene Speisen, besondere Rezepte und kulinarische Heldentaten, auch an ungewöhnlichen Orten dieser Erde, in kleinen und großen Bergen. Vielleicht steht heute noch Peters Höhenrekord für Quarkkeulchen im Pamir auf 6105m. Wahrscheinlich ist es auch das letzte Geheimnis unserer kleinen Männerwelt, um unsere Gesundheit, unsere Freundschaft und unser Leben in den Bergen noch lange zu erhalten.
Was war sonst noch? Ach ja, Pinkus war mit.
Pinkus und der Kaktus: Pinkus hatte dieses Jahr wieder mal einen zweiten Geburtstag, wie auch voriges Jahr in Sardinien, wo das Seil bis auf 5 Fasern beim Sturz gerissen ist. Am letzten Klettertag und am letzten Kletterweg war es wieder mal so weit, diesmal war es ein Kaktus. Abgeseilt, das Seil abgezogen,, an einem riesigen Kaktus hängengeblieben. Und der ist dann aus 20m Höhe direkt neben Pinkus eingeschlagen.. Er bemüht seinen Schutzengel als 74- jähriger ein bisschen viel. Vielleicht ist das auch ein Fingerzeig für mich?
Pinkus und das Wetter: Das Wetter ist hier nach den ersten sonnigen Tagen ganz schön durcheinander geraten. Sozusagen beständig unbeständig, mal gut, mal Unwetter. Wie heute am letzten Klettertag mit einem Sturm, der aus dem Süden kommt und Sizilien reinigt. Auch auf dem nahen Meer tobt er und nimmt dabei ganze Wasserschwaden mit auf seinem Weg nach Norden, nach Sardinien, das gerade Land unter meldet. Trotzdem haben wir am Abend wieder einen herrlichen Sonnenuntergang und dabei Wetterfachgespräche mit Pinkus als größtem Hobbymeteorologen vor dem Herrn. Pinkus, der uns täglich die Welt und das Wetter an Hand der Wolkenbildung erklärt. Leider war die Trefferquote gering. Als ich ihn mal daraufhin ansprach, weil es oft statt vorhergesagter Sonne geregnet hatte, meinte er: “Gestern, das bisschen Regen, kannst du nicht mit zählen…!“
Pinkus ist anders. Alle Menschen sind gleich, Pinkus ist anders.
Für Pinkus gibt es eine heile Welt, die ihm zu diene hat oder zumindest immer freundlich gesinnt sein sollte. Und Sprachbarrieren gibt es für ihn nicht, er geht einfach hin und zeigt was er will. In Segesta mussten wir zur Weinabfüllanlage vom Berg herunterfahren. Und tatsächlich, ruck zuck, kam er schon nach einer halben Stunde mit zwei Weinkartons wieder heraus. Oder im Marmorsteinbruch, da lernten uns dank Pinkus alle Arbeiter kennen. Ich konnte ihn nur mit Mühe überreden, seine Fundstücke nicht polieren zu lassen.
Pinkus’ Leben. Zur Abendstunde genossen wir authentisch von ihm erzählte ereignisreiche Lebensabschnitte. Knapp überlebte Bergfahrten in der ganzen Welt ebenso wie unglaubliche Randerlebnisse, selbst „eingerührte“, auf die kein Mensch sonst auf dieser Erde gekommen wäre. Zum Beispiel in Monaco. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt in Monte Carlo ein Spielcasino anzusehen. Klingt zwar einfach, ist es aber an einem Sommervormittag nicht. Zuerst gibt es gar keine Parkplätze. Also fährt er ans größte Hotel und fragt am Empfang (ich sehe es vor mir, wie der livrierte Portier die Tür seines alten Opels aufreist!) nach einem Herrn Jäschke (der er selber ist!), der hier abgestiegen sein soll! Das Ergebnis: Er darf sein Auto dort abstellen, um auf Herrn Jäschke zu warten. Dann also auf zum Spielcasino, das natürlich Vormittags geschlossen ist.. Für Pinkus kein Problem. Das Reinigungspersonal ist ja da. Also schnappt er sich einen Besen…“Und bist du da nicht aufgefallen?“ frage ich. „Na ja, ein bisschen haben sie sich schon gewundert, so wie ich in meinen Wandersachen aussah!“ Das ist Pinkus!
Pinkus unser großes Kind. Er genießt weithin Gedanken-, Reden- und Tatenfreiheit. Ich werde mich hüten, ihn zu ändern, habe ja selbst mit mir genug zu tun. Aber: Ich möchte auch mal wieder irgendwo in der Welt mitfahren, so wie hier mit einem kostenlosen Reisebüro, von den anderen Jüngeren organisiert. Ein zu kurzes Seil mitnehmen, dann ist es nicht so verschlissen wie das der anderen an dem scharfen Fels. Ein Handy haben und das nie einschalten, teure Auslandsgespräche damit vermeiden. Den Kletterführer haben die anderen und die Buchung von Flug, Quartier und Mietauto einfach auch den anderen überlassen. Da kann man in Ruhe zusehen, wie sich die anderen über Fehlversuche und zu hohe Kosten streiten. Aber Pinkus wird antworten: „Ich hätte mich einfach ins Auto gesetzt und wäre losgefahren…!“. Und hätte damit sogar recht gehabt.
Essen mit Pinkus. Gestern Abend gab es Spaghetti. Peter erzählt gerne die Geschichte von Günter, der beim Spaghettiabgießen den schönen großen Topf in den Dreck geschüttet hat. Lustig, wenn man nicht dabei ist. Diesmal hat Pinkus den ganzen Topf im Ausguss versenkt Ich bin schuld, denn das wäre meine Arbeit gewesen. Ich gieße die Spaghetti immer selbst ab, mir ist so etwas noch nie passiert, da ich abends zu großen Hunger habe, als dass ich mir diesen Fehler leisten könnte.
Pinkus macht aber insgesamt weniger Fehler als ich. Denn ich sitze hier am Flughafen in Palermo mit nassen Füßen in Socken. Ich konnte mich nicht trennen von dem Land, meinem Sizilien. Deshalb hatte ich am Vormittag noch eine kleine Wanderung eingeschoben. Ohne Pinkus, der hatte als Wetterprophet das kommende Unheil sicher schon gesehen. Hinauf in die wilden Hügel hinterm Ferienhaus in Castelluzzo bin ich gestiegen. Ein lustiger Hund begleitete mich, auch noch im mich überraschenden Starkregen. Nun ist es doch noch ein schöner versöhnlicher Abschied geworden!
Auf Wiedersehen Sizilien!
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