Ein bissl Abenteuer muss man als Ü 72er schon haben, jährlich mindestens einmal; wenn man das zu Hause im Sandstein und die Novemberkletterfahrt in Süditalien nicht rechnet. Und das erwarten auch meine Schweizer Freunde, denn sie haben besten Fels, wie es auch in den Plaisierkletterführern der Familie von Känel so schön beschrieben ist. Nachdem im vorigen Jahr Wallis dran war, steht nun wieder das Haslital im Berner Oberland auf der Kletterspeisekarte. Hier, am Knotenpunkt verschiedener Hochgebirgstäler warten fast endlose Plattenfluchten im feinsten Granit und Gneis auf uns.
Meine (Er)wartungen dagegen sind hoch, ich hatte mir zu Hause ziemlich viel Mühe gegeben, mich in Form zu bringen. Und ohne Angst mal wieder hier zu Klettern sollte jetzt der Lohn der Angst aus den heimatlichen Felsen werden. Denn hier in der Schweiz kann (fast) nichts passieren; die Berge sind hoch und gut mit Bohrhaken abgesichert. Na gut, am Fels sieht es schon wieder ein bissl anders aus. Einziger Mangel: Ich musste dieses Jahr warten, bis mein Ü77- Partner aus Lenk i. S. fit war, bis die Verletzungen aus dem jährlichen Motorradunfall (das gefährliche Gerät wird liebevoll „Töff“ genannt!) wieder eine Felsberührung zuließen. Nun, Mitte August, war es dann so weit, dass Sepp mir die verletzte Hand geben und er mit dem lädierten Bein bis zum Einstieg gelangen konnte.
Im Regen kamen wir an. Ich dachte schon, das fängt ja gut an; ich sah meine geplanten Erlebnisse ins Wasser der imposanten Aareschlucht neben unserem Campingplatz „Grimselblick“ fallen. Aber nach einem Brückentag unter Wolken mit einer altersgerechten Wanderung zur Laubalm gab es nur noch pure Sonne.
Also auf zu meinem Lieblingsklettergebiet über dem angestauten Räterichsbodensee. Plaisier pur: Kurzer Anmarsch am See entlang, vorbei an einer einzigartigen Gletschermühle und Blaubeeren, dann warten nur noch Plattenfluchten, viele Seillängen im 4. Und 5. Franzosengrad, also plaisier, wie es der Kletterführer verspricht und der Fels hält. Und wer etwas Gefühl in der Sohle hat, braucht nicht viel Kraft in den Händen. Wenn ich nun auch noch sagen würde, ein richtiger schöner Frauenweg, wäre zwar vielleicht die Hälfte der Menschheit beleidigt, aber ich hätte endlich mal wieder Recht.
Der zweite Tag gehörte dann zu dem Sprichwort „Alter schützt vor Torheit nicht“ oder „Man lernt nie aus“ usw. Auf zum Bügeleisen im Handegg. Ich hatte es in noch etwas schlechter Erinnerung, vor ca. 10 Jahren; ein 200m hoher Granitpfeiler und wie es der Name sagt, von der Natur und den Gletschern glattgebügelt. Aber 5c+ sollte es schon sein; meine geplante Steigerung seit 50 Jahren um einen halben Schwierigkeitsgrad immer im Hinterkopf. Gleich der Einstieg ging schief, da hätte ich schon gewarnt sein sollen. Eine ziemlich extreme Reibungsplatte; und selbst hier im ganz harten Gestein etwas glattgelatscht. Ich kam im dritten Versuch zwei Meter hoch, dann landete ich wieder in den Einstiegsblöcken mit einem zerschrammten Schienbein. Da bei weiteren Versuchen die Gefahr eines frühzeitigen Urlaubsendes bestand, stieg ich dann einfach einen Meter weiter links ein, was einem linientreuen Sandsteinkletterer schon mal ganz schön an die Ehre geht. In der dritten, schon schweren Seillänge passierte es, was nicht passieren darf: Eine Reibung mal hochlaufen geht gar nicht. Vielleicht hatte ich diese Stelle unterschätzt oder einfach keine Zeit, es war halb Elf und die Sonne stand schon erbarmungslos hinter mir, jedenfalls ging es ganz plötzlich wieder hinunter. Ohne Vorwarnung, schön weit, tut auch ganz schön weh hinterher. Dabei habe ich ein Geheimnis: Nicht dort hin treten, wo alle anderen den Fels glattgetreten haben. Beim zweiten Mal geht die Stelle gut und sicher, auch wenn die angeschlagenen Körperteile schmerzen. Aber so was geht gut unter beim Klettern in der Höhe. Dann erst kommen die beiden schweren Seillängen, zwei mal 40 Meter. Die nächste Seillänge hatte ich noch in schlechter Erinnerung, die Rissspuren. Und siehe da, ich komme nicht hoch, war ja fast zu erwarten, werde ja nicht jünger, wird mancher sagen. Im letzten Moment völliger Verzweiflung und Verausgabung gibt mir Sepp den Tipp einen Linksbogen einzulegen. Und siehe da, das unmöglich Aussehende geht sicher und gut. Nun noch die letzte Seillänge, ich komme gut hoch und sehe dann schon fünf Meter vor mir den Umlenker. Hier hilft kein guter Rat mehr; Sepp ist unsichtbar 40 Meter unter mir. Und ich bin zwei Meter weg vom letzten Bohrhaken. Es steilt noch mal auf und nach drei Versuchen, rechts, mitte, links, wird mir klar, dass das schwer ist. Sehr schwer. Nur kurz denke ich an einen „Sack“. Mit allen Konsequenzen, wie Abseilmanöver, Materialverlust moralischer Schaden usw. Oder einen neuen Sturz riskieren? Was passiert überhaupt, wenn mal der Vorsteiger „ramponiert“ da oben hängt? Da sollte man sich schon mal Gedanken machen. Dann der entscheidende Versuch, gerade hoch, oben ist ein kleiner schräger Griff, der könnte mich in die sich leicht neigende Wand bringen, wenn ich ihn nach links belaste. Er ist zu klein, die Füße rutschen, der Körper will nach unten, fast gebe ich mich auf, die Hände geben nach, ich bleibe immer noch an der Wand, trete noch mal fast aussichtslos nach (jetzt wird mir alles egal), bin wieder fast weg und dann bekomme ich doch noch den Körperschwerpunkt über die Kante. So nahe war ich (fast) noch nie am Runterfallen nach 55 Jahren Kletterleben und auch noch nie so fertig! Wenn ein junges Mädchen dagestanden wäre, ich hätte nicht mal lächeln können!
Am nächsten Tag erholten wir uns in den Plattenfluchten des Steingletschers. Es ist dann irgendeine Art Belohnung, wenn man 5c- Stellen gar nicht mehr als schwer empfindet. Dabei war es am Vortag wieder fast so, dass ich (zum wievielten Mal?) meine Klettersachen verschenken wollte, meine Kletterlaufbahn endlich, wie von meiner Frau seit 50 Jahren gewünscht, beenden wollte. Na, nun nicht mehr!
Einsetzender Regen verhinderte weitere Kletterhelden- oder –untaten. In der Folge bekamen wir ein Lob vom netten Campingchef Bruno Kehrli, 6 Tage lang in unserer Leinwandtropfsteinhöhle ausgeharrt zu haben. Aber ich wollte ja schon immer mal die überdachten Sehenswürdigkeiten im Berner Oberland kennenlernen.
Zuletzt ein Wort über die sogenannte Schweizer Gründlichkeit. Ich wusste ja schon immer, dass hier alles ruhig und gewissenhaft abläuft. Nicht nur auf Parkplätzen, wo ich wieder mal einen Strafzettel sonntagnachmittags sammelte. Das konnte man ja fast noch als normal ansehen. Aber wenn man eine Wanderung um einen Bergsee macht, hier an der Engstlenalp und ein Schild steht, dieser „Spazierweg ist nicht durchgehend“, dann sind doch Zweifel angebracht. Ich hätte es nicht testen sollen. Mit Wanderungen habe ich schlechte Erfahrungen. Und: Wo ich bin, passiert immer etwas in einem Bergurlaub. Nun nahmen also die Dinge wieder ihren Lauf. Im Starkregen den botanisch wertvollen Weg auf- und abwärts, anfangs gut ausgetreten, den See entlang.
Erdkröte, Springfrosch und schwarzer Salamander begrüßten uns. Bäche wurden übersprungen, steile Grashänge und hüfthoher Alpendschungel, Latschen und Alpenrosen überquert. Eine Blaubeerwiese ließ uns da nahe Ende des Sees nach über einer Stunde Wanderarbeit im Altersleistungsgrenzbereich erahnen. Und siehe da: Es fehlten nur noch 50 Meter Kletterei hinunter zum See. Ja, früher, in jungen Jahren wäre das kein Problem gewesen, da hatte ich noch Opfermut. Aber jetzt, jetzt sollen andere noch nicht lachen an meinem Grab. Die Lösung: Alles wieder zurück. Fazit: Die Schweizer machen doch alles richtig!
Erhard Klingner, August 2015, noch im regnerischen Berner Oberland
Mehr von Erhard auf Geoquest: